Anders oder krank?

Bei Fieber ins Bett, bei Schmerzen zur ärztlichen Untersuchung, bei psychischen Leiden in die Therapie: Wir glauben zu wissen, was es bedeutet, gesund zu sein oder eben nicht. Aber lässt sich wirklich genau sagen, was eine Krankheit eigentlich ist?
«Ich habe keine Geschichte über Autismus geschrieben», erklärte der britische Autor Mark Haddon als 2003 sein Roman Supergute Tage oder Die sonderbare Welt des Christopher Boone erschien. Im englischen Original: The Curious Incident of the Dog in the Night-Time. Dass das grosse Publikum – das Buch wurde zum Welterfolg – Supergute Tage als Geschichte über Autismus verstand, lag einerseits am Verlag, der es so vermarktete, anderseits an der Hauptfigur, dem titelgebenden Christopher Boone. Christopher ist ein Teenager, der viele Züge von Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung aufweist. Doch Haddon bestand darauf, seinem Protagonisten keine Etiketten anhängen zu wollen: «Etiketten sagen nichts über eine Person aus. Sie sagen nur etwas darüber aus, wie die anderen diese Person kategorisieren. Gute Literatur reisst Etiketten ab. Eine Diagnose kann zu praktischer Hilfe führen. Aber einen anderen Menschen wirklich zu verstehen, bedeutet, mit ihm zu sprechen und ihm zuzuhören und herauszufinden, was ihn zu einem Individuum macht.» 2012 arbeitete Simon Stephens das Buch zu einem Stück um. Auch dieses wird unterdessen international gespielt, nun ebenfalls am Konzert und Theater St.Gallen.
Haddons Weigerung, seine Hauptfigur pathologisch festzulegen, führt direkt in die schon sehr lange geführte Diskussion um die Frage, was eine Krankheit überhaupt ist. Auf den ersten Blick müsste die Sache klar sein, schliesslich baut die ganze Medizin auf den beiden Begriffen «Krankheit» und «Gesundheit» auf. Weil wir das eine vom anderen unterscheiden, gibt es sie überhaupt. Doch so einfach ist es nicht. Der Philosoph – und Arzt – Karl Jaspers sagte es so: «Was gesund und was krank im Allgemeinen bedeutet, darüber zerbricht sich der Mediziner am wenigsten den Kopf.»
Jaspers war Psychiater. Ihm war natürlich bewusst, dass gerade in seinem Fachbereich, dem der so genannten geistigen oder psychischen Krankheiten, die Unterscheidung von «krank» und «gesund» besonders schwierig ist. Das fiel auch seinem Kollegen Eugen Bleuler auf. Der 1857, etwa eine Generation vor Jaspers, geborene Schweizer Psychiater prägte den Terminus «Autismus». Er verstand darunter «die Loslösung von der Wirklichkeit zusammen mit dem relativen oder absoluten Überwiegen des Binnenlebens». Bleuler schrieb: «Ebenso charakteristisch wie komisch ist es, dass nicht einmal der Begriff, mit dem wir alle in erster Linie operieren müssen, der der Krankheit, von uns anders als im vulgärsten und ungenausten Sinne verwendet wird und überhaupt noch nicht klargestellt worden ist. Krank und gesund sind etwa Begriffe wie warm und kalt. (…) Dass die natürlichen Grenzen fliessende sind, weiss jedermann; aber man stellt sich selten vor, wie breit die Übergangszonen sind.»
Die Weltgesundheitsorganisation WHO, die es eigentlich wissen müsste, definiert nicht den Begriff der Krankheit, sondern, ihrem Namen gemäss, den der Gesundheit: Gesundheit ist ein «Zustand des umfassenden körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht lediglich das Freisein von Krankheit und Schwäche». Das klingt nach dem Paradies. Was aber, wenn man sich, nicht ganz unwahrscheinlich, nicht «umfassend» wohl fühlt, ist man dann gleich krank?
Die Medizin geht in der klinischen Praxis anders vor. Sie definiert statistisch. Davon ausgehend, dass die Lebensfunktionen eines Organismus’ bestimmten Regeln folgen, werden Abweichungen beobachtet. Statistisch drückt sich die Regelhaftigkeit des Lebens in Mittelwerten aus, Abweichungen als Entfernung von diesem Mittelwert. Überschreiten die Abweichungen ein bestimmtes Mass, zeigen sie an: Der Mensch ist krank.
Weil Krankheit so zu einem relationalen Begriff wird, der sich auf etwas anderes beziehen muss, um verständlich zu sein, kann derjenige der «Störung» an seine Stelle treten. Das Eidgenössische Departement des Innern, zuständig für die Gesundheitspolitik des Landes, formuliert es, in Anlehnung an die WHO, so: «Krankheit wird definiert als Störung des körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens.»
Dieses Vorgehen bringt das Problem mit sich, dass das akzeptable Mass an Abweichung bestimmt werden muss, was einerseits nach dem Grad des Leidens des oder der betroffenen Menschen, anderseits in Abhängigkeit von sozialen Normvorstellung geschieht, besonders bei psychischen Erkrankungen. In der Medizingeschichte gibt es einige Beispiele von Phänomenen, die einst als Krankheiten galten und es heute nicht mehr tun, Homosexualität ist womöglich das prägnanteste. Umgekehrt wurden etwa psychische Voraussetzung von Menschen, die heute als pathologisch angesehen werden, früher nicht so betrachtet, zumal es keine Namen dafür gab. Menschen mit ADHS oder Autismus fielen wohl immer schon auf, worunter sie litten, liess sich aber nicht sagen.
Eine Zeichnung des autistischen Künstlers Gregory Blackstock (1946-2023)
Gerade im Feld der psychischen Krankheiten steht der Begriff der «Störung» neben demjenigen der «Krankheit», nicht zuletzt, um die betroffenen Personen vor Fremd- und Selbststigmatisierung zu schützen. Eine klare Trennung ist aber auch hier kaum möglich. Es ist, wie Eugen Bleuler sagte: Die Begriffe sind unscharf. Daher die heute übliche Formulierung der «Autismus-Spektrum-Störung». Der Begriff «Spektrum» soll zum Ausdruck bringen, dass sich das Phänomen als eine Art Feld präsentiert, auf dem verschiedene Erscheinungsformen der Störung verteilt sind.
Gleichzeitig ist der Begriff «Krankheit» nur schwer ersetzbar. Das Er- und Anerkennen einer Krankheit ist für die Betroffenen oft der erste Schritt zu Hilfe oder sogar Heilung. Unser ganzes Gesundheitssystem ist auf dem Krankheitsbegriff aufgebaut: Ohne Diagnose gibt es keine Versicherungsleistungen. So gesehen sind auch aktuelle Bestrebungen nach einer Entpathologisierung von psychischen Störungen zweischneidig. Ein Begriff wie «Neurodiversität» könnte das Bewusstsein für die radikale Individualität des Schicksals jedes einzelnen Menschen schärfen, mit welchen psychischen Voraussetzungen er auch immer lebt. Nützt das der gesellschaftlichen Integration, umso besser. Das meinte Mark Haddon ja. Doch was ändert es, wenn anstelle des ohne Zweifel problematischen Worts «normal» ein ähnliches wie «neurotypisch» tritt und anstelle von «Störung» «neurodivers»?
So bleibt nichts anderes übrig, als Symptome zu beobachten, zusammenzufassen und zu kombinieren. Erfasst werden sie in der von der WHO herausgegebenen «Internationalen Klassifikation der Krankheiten» ICD. Die ICD unterliegt der regelmässigen Überarbeitung, womit im Idealfall der Wandel gesellschaftlicher Wertvorstellung und Menschenbilder berücksichtigt werden kann. Im Moment gültig ist die ICD-11, die 2022 in Kraft getreten ist. Ergänzend zu diesem Register der Symptome gibt es die so genannte ICF, die «Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit». Sie erfasst die Auswirkungen der Krankheiten in Bezug auf Körperfunktionen, Aktivitäten und Teilhabe. In Kombination ergeben diese beiden Referenzsysteme ein Bild dessen, was wir Gesundheit und Krankheit nennen. Kein fertiges Bild, sondern ein Spektrum, das sich synchron zur wissenschaftlichen Forschung und der gesellschaftlichen Entwicklung ständig verändert. (Martin Bieri)

Supergute Tage

Schauspiel nach einem Roman von Mark Haddon in einer Fassung von Simon Stephens

Bis zum 5.4. in der Lokremise